, ,

Paul, der Labbi-Mix (9)

An diesem Morgen waren Sabine und Gertie mit Marie und Paul im mittlerweile fünften Geschäft, um eine neue Pfeife für Herrn Gutmut zu finden. Sabine bekam immer noch einen kleinen Schweißausbruch, wenn sie daran dachte, wie Paul den älteren Herrn mit geballten 45 Kilo Allradantrieb und ordentlich Schwung umgeworfen hatte. Glücklicherweise hatte Gutmut verständnisvoll reagiert. Eines war auf jeden Fall sicher, ab sofort gab es für Paul nur noch Freilauf, wenn Sabine auch wirklich den Überblick hatte.

Als sie Michael am Abend davon erzählt hatte, konnte er sich ein Lachen nicht verkneifen. Früher wäre er besorgt gewesen, aber zwei Jahre Paul hatten ihn verändert. Mittlerweile machte er sich jeden Morgen einen Spass daraus, laut im Treppenhaus „So, Paul, jetzt geht’s zur Jagd“ zu rufen, nur um sich dann beim Frühstück über die verärgerten Blicke der Nachbarn lustig zu machen. Und während er noch vor einigen Monaten bemüht war, den Frieden aufrecht zu erhalten, nutze er nun jede Gelegenheit, um mit den Anwohnern zu diskutieren. Ironie war nie seine Stärke gewesen, mittlerweile beherrschte er die komplette Palette, wenn es darum ging die verbitterten alten Leute aus der Wohnung gegenüber in den Wahnsinn zu treiben.

„Sollen wir das jetzt bis ans Ende unseres Lebens ertragen?“ rief zum Beispiel einmal die Nachbarin, die sich mal wieder über den Kinderwagen im Flur beschwerte. „Is‘ ja nicht mehr lang.“, konterte Michael trocken und musste grinsen, als er den verdatterten Blick dieser alten Schachtel zur Kenntnis nahm. Sabine hatte den Eindruck, dass ihr Mann langsam Spass an dieser Outsider-Rolle hatte.

„Die hier ist doch gut“ sagte Gertie und zeigt Sabine eine geschwungene Pfeife aus Holz. „Keine Ahnung, ich hab noch nie Pfeife geraucht. Aber schön aussehen tut sie.“ Blöderweise hatte Sabine die kaputte Pfeife von Herrn Gutmut nicht mehr in Erinnerung, aber Gertie machte einen überzeugten Eindruck, also sollte dieses Modell der versprochene Ersatz werden.

Manche Momente im Leben vergisst man nie. Das wussten auch Sabine und Gertie. Die Geburt von Marie zum Beispiel oder als Gerties Mann starb und sie die letzten Wochen seines Lebens an seiner Seite verbrachte, bis er schliesslich seinem Leiden erlag. Oder der Tag, an dem Sabine Michael kennengelernt hatte – obwohl die Erinnerungen der beiden hier etwas auseinandergingen. Während Sabine stundenlang alle Details ihrer ersten Begegnung zu erzählen wusste, antwortete Michael auf die Frage, wie er seine Frau kennengelernt hatte, mit einem knappen „An der Uni“. Typisch Mann.

Das der heutige Vormittag zu einem solchen Moment für die beiden Frauen werden sollte, ahnten sie noch nicht, als sie mit dem Kombi den geteerten Feldweg zu Herrn Gutmut hochfuhren. Sabine hatte vorher bei ihm angerufen, um sich zu versichern, dass er auch zuhause sei. Am Telefon klang er etwas komisch und sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich willkommen waren. Als sie an dem etwas vergammelten Gartentörchen stand und klingelte, tat sich erst mal nichts. Sie klingelte erneut – nichts.

„Bist du sicher, dass Ihr 12 Uhr verabredet habt?“ fragte Gertie. „Ja, ganz bestimmt, ich habe ihn ja heute morgen extra noch mal angerufen.“ erwiderte Sabine. „Hm, komisch“. Gertie öffnete das Tor und ging in den Vorgarten. Sabina war nicht so ganz wohl dabei und so zog sie es vor, lieber vor dem Grundstück zu warten. „Ich schau mal hinterm Haus, aber es scheint niemand da zu sein.“ sagte Gertie.

Christian und Marco hatten gerade ihren Bereitschaftsdienst angetreten, als der Notruf eintraf. In eiliger, aber präziser und routinierter Vorgehensweise hatte es keine fünf Minuten gedauert, bis sie ihren Rettungswagen auf die Straße gebracht hatten und weniger als zehn Minuten, bis sie am Einsatzort eingetroffen waren. Fast zeitgleich war Herr Dr. Schnelle vor Ort, der als zuständiger Notarzt gerade aus dem Klinikum gekommen war. Der etwa 70-jährige Patient war jedoch bereits tot, als die Einsatzkräfte zur Hilfe geeilt waren.

Eine ältere Dame und ihre Tochter hatten den Notruf ausgelöst. Die Dame, die sich als die Mutter der jungen Frau herausstellte, hatte den Toten hinterm Haus gefunden. Später würde ein Schlaganfall als Ursache für den Tod des Mannes festgestellt werden und Christian und Marco würden unisono sagen, dass sie froh seien, dass der Mann gefunden wurde, bevor die Natur sich seines Körpers bemächtigte. Ältere Leute, die einsam versterben und oft erst wochenlang später gefunden wurden, waren so ziemlich das Schlimmste an dem Job.

In den folgenden Wochen fühlte sich Sabine irgendwie bleiern, wenn man sie ansprach, erreichten sie die Worte wie durch einen Schleier und wenn sie unterwegs war, dann wie mit Scheuklappen. Dieser Mittag ließ sie nicht mehr los, sie musste an Herrn Gutmut denken, und wie der darüber gesprochen hatte, wie einsam er sich manchmal fühlte. Das seine Frau gestorben waren und seine Kinder lange aus dem Haus. Es war weniger der Anblick der Leiche, der ihr zu schaffen machte. Vielmehr beschäftigte sie die Tatsache, dass dieser nette Mensch alleine gestorben, dass niemand bei ihm war und seine Hand gehalten hatte, dass seine Kinder über das Telefon vom Tod ihres Vaters erfahren hatte.

In diesem Wochen stand sie oft am Bett von Marie und dachte darüber nach, wie wohl ihr Leben im Alter aussehen würde. Was sie tun würde, wenn sie irgendwann allein sei. Und ob Marie sich wohl um ihre Eltern kümmern könnte, wenn diese Pflege bedürften. Michael fühlte sich etwas hilflos, er beobachtete Sabine, hatte aber das Gefühl, dass er keinen echten Zugang zu ihr bekam. Was sollte er tun. Ein Freund von ihm rat ihm, einfach da zu sein. Sabine würde schon darüber hinwegkommen und es kämen auch wieder bessere Zeiten.

Gertie wiederrum hatte sich recht schnell von dem Schock erholt, schliesslich hatte sie den Mann ja nie kennengelernt. Sie verfolgte die Devise, dass „Etwas unternehmen“ das beste Mittel war, um Sabine aus ihrem emotionalen Tief herauszuholen. Und so stand sie jeden Tag vor der Tür, packte ihre Tochter, ihre Enkeltochter und das Zweitkind, wie sie Paul liebevoll nannte, ein und es wurde etwas unternommen. Kaffee trinken gehen, ins Einkaufszentrum oder spazieren im nahegelegenen Naturschutzgebiet.

Vielleicht war es Zufall, vielleicht führte auch irgendetwas unterbewusstes Gertie und Sabine genau an diesen Tag in die Nähe von Herrn Gutmuts Haus. Sabine war zunächst wie starr vor Schreck, als sie die Giebel des Hauses zwischen den Laubbäumen wieder erkannte. Aber irgendwas zog sie dahin. Vielleicht brauchte sie einen Abschluss, einen finalen Schlussstrich, wer wusste das schon.

Gemeinsam mit Gertie ging sie den Weg runter zu dem Gartentörchen, an dem sie an dem Tag gestanden und vergeblich geklingelt hatte. Im Vorgarten stand ein großer Container, in dem jede Menge Sperrmüll und Gerümpel lag. Ein ganzes Leben in einem Container. Ein etwas pummeliger Mann trug gerade einen alten Beistelltisch aus Buchenholz aus dem Haus, als er bemerkte, dass da jemand vor dem Grundstück steht.

„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte er sichtlich aus der Puste. „Nein“, stammelte Sabine etwas unsicher, „es ist nur …“. Sie erzählte dem Arbeiter, wie sie Herrn Gutmut gefunden hatten und dass sie einfach nochmal hierher kommen wollte, um einen Schlussstrich zu ziehen. Und sie erzählte ihm von Gutmuts unheilvollen Begegnung mit Paul und von der zerbrochenen Pfeife.

Der Mann hörte zu und drehte sich derweil eine Zigarette. „Ich erinnere mich,“ nuschelte er etwas, während er sich den Glimmstengel anzündete. „Mein Vater hat mir davon erzählt. Paul, wie mein Uropa, ein harter Hund“, grinste er und guckte Paul freundlich an. „Komm’se doch rein, hier isses viel zu kalt.“ Sabine, Gertie und Paul folgten Gutmuts Sohn ins Haus. Fast alle Räume waren bereits leergeräumt. Nur ein paar helle Stellen an den Wänden zeugten von den Möbeln, die hier mal gestanden hatten.

Gutmut Junior ezählte von seinem Vater, von dem nicht immer ganz einfachen Verhältnis zu ihm und dass Herr Gutmut sich bis zum Ende geweigert hatte, das Haus aufzugeben. Nun stand es da, ohne Besitzer. Juniors Schwester hatte gleich klargestellt, dass sie kein Interesse an der Immobilie hatte, ihr Lebensmittelpunkt war im Süden und sie liebte München. Außerdem, das Haus war alt, es gab viel zu renovieren und wer wollte schon soweit abseits leben. Der nächste Nachbar 200 Meter weit weg, kein Supermarkt und kein Bahnhof in dem Kaff.

Gutmut Junior hatte das Haus vor einiger Zeit zum Verkauf angeboten und schnell die Erfahrung gemacht, dass die Immobilienpreise tatsächlich ziemlich im Keller sind. „Wenn Sie jemanden kennen, der das Haus haben will, geben’Se mir bescheid“ sagte er nachdenklich, während er einige Porzellanfiguren in einen Müllsack bugsierte. Er musste schmunzeln. „Mein Vater hat diesen Tinnef gehasst, aber Mutter hat ständig diesen Kram angeschleppt und das Haus bis unters Dach mit Kitsch vollgestellt. Vater hätte sich nie getraut, die Figuren wegzuwerfen. Mutter war schon zehn Jahre tot und er hat sie immer noch hier stehen gehabt.“ Er nahm eine der Figuren, einen gold-weißen Porzellan-Engel mit einer Harfe. „Wollen Sie die vielleicht haben?“

(Fortsetzung folgt)

Hier geht es zu den anderen Teilen von Paul.

6 Kommentare
  1. Jaqueline
    Jaqueline sagte:

    Du musst schneller schreiben. Ernsthaft sonst hab ich bald weder Haare noch Fingernägel… Muss ich erwähnen das Geduld nicht zu meinen Stärken gehört….

    Antworten
  2. Maria
    Maria sagte:

    fleissiger Normen! Schön weiterschreiben, sonst fehlt mir was…. aber…. musste der arme Hr. Gutmut sterben? Hätte er nicht mit der jungen Familie zusammenleben können und alles ist gut? Der Arme….. ;-) frohes Weiterschreiben !

    Antworten
  3. Antje Herchenhahn
    Antje Herchenhahn sagte:

    Ich habe ein großes Faible für ‚life and opinions of Tristram Shandy‘.
    Erinnert mich irgendwie daran ;-)

    Antworten

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar zu Maria Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert