Elisabeths Tränen
Ich hatte beschissen geschlafen und deshalb entschieden, den Wecker auszuschalten und mich nochmal umzudrehen. Gerade als ich wieder einschlafen wollte, hörte ich plötzlich ein klopfen und ein leises „Hallo“. Verdammt.
Ich hasse es, wenn fremde Menschen unangemeldet vor der Tür erscheinen. Dafür vereinbare ich Termine. Und nun dieses „Hallo“.
Also zog ich mir etwas über und schaute nach.
Vor der Haustür stand eine Frau, vielleicht Mitte Dreißig, Sie wirkte tough, aber sie atmete schwer und kämpfte mit den Tränen. Ihr Name war Elisabeth.
Es war ungefähr zwei Stunden her, als ihr Leben schlagartig geändert hatte und ihre schlimmsten Befürchtungen wahr wurden. Um kurz nach Sieben war sie mit ihrem Hund spazieren gegangen, als sich dieser plötzlich losriss und ein siebenjähriges Kind schwer verletzt hatte.
Das Kind wurde mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht und seitdem war Elisabeth auf der Suche nach einer Lösung.
Sie hatte rumtelefoniert, bis sie um diese Uhrzeit schließlich jemanden erreicht hatte, der ihr geraten hatte, sich an mich zu wenden.
Vor ungefähr einer Stunden hatte ich einen Anruf in Abwesenheit, weil ich beschlossen hatte, mich wieder hinzulegen. Da Elisabeth nur meine Mailbox zu hören bekam, setzte sie sich in ihrer Verzweiflung ins Auto und fuhr die knapp Vierzig Kilometer, bis sie schließlich vor meiner Tür stand und mir schilderte, was geschehen war.
Sie versuchte sich zusammenzureißen und den Vorfall zu sachlich wie möglich zu schildern. Sie war sofort zu dem Kind gelaufen und wollte den Notruf wählen. Doch in der Schocksituation wollte ihr einfach die 112 nicht einfallen. Wie versteinert habe sie da gestanden, sagte sie, habe sich an ihrem Hund festgekrallt und war völlig hilflos.
Ein Passant, der zur Hilfe geeilt war, wählte schließlich den Notruf. „Warum ist mir diese Nummer entfallen?“ fragte sie mich verzweifelt und ihr lief eine Träne die rechte Wange hinunter.
Vor einigen Jahren bestand der Hauptteil meiner Kundschaft aus Menschen, deren Hunde an der Leine pöbelten oder jagten. Heute bin ich immer öfter mit richtigen Schicksalen konfrontiert, mit Menschen, die wirklich verzweifelt sind und sich in ausweglosen Situationen wägen.
Dem entsprechend habe ich gelernt, mit hochemotionalen Situationen umzugehen. Wenn mein Gegenüber anfängt zu weinen, fühle ich mit ihm, versuche dabei aber objektiv und sachlich zu bleiben.
Bei Elisabeth halfen all die Strategien, die ich im Laufe der Zeit erarbeitet habe, kein Stück weiter.
Anhand ihrer Schilderungen konnte ich jeden einzelnen abwertenden Blick der gaffenden Masse förmlich spüren, konnte das Wimmern des Mädchens hören und Elisabeths Verzweiflung und Sorge, diese Ausweglosigkeit konnte ich fast greifen.
Sie stand vor mir und weinte. Ich war wohl der letzte Halt, bevor sie den Weg zum Tierarzt antreten würde, um ihren Hund einschläfern zu lassen.
Das Problem sei ihr bewusst gewesen, sagte sie, sie habe förmlich aufgepasst wie ein Schießhund, und nun das.
Sie hatte in einem Forum ihre Sorgen geschildert und auch, dass sie jemanden suche, jemand sachkundiges, der ihrem Hund eine Chance geben würde. Die Reaktionen der anderen Nutzerinnen waren ernüchternd bis verletzend.
Ihr wurde durch die Internetgemeinde vor Augen geführt, dass sie ein schlechter Mensch sei, dass sie sich nicht wirklich bemühe.
Jemand hatte sie als verantwortungslos bezeichnet. Dabei wollte sie doch Verantwortung übernehmen. Für den Hund und vor allem für die Umwelt, für die er eine Gefahr darstellte.
Und sie hatte wirklich vieles probiert, angefangen von tierärztlichen Untersuchungen bis hin zu Futterumstellungen, hatte Kurse besucht und Workshops, Einzelstunden genommen und viel Geld und Zeit investiert, um die Probleme in den Griff zu kriegen.
Sie mochte ihren Hund wirklich und ich konnte spüren, wie enttäuscht sie war – von ihrem Hund, aber vor allem von sich selber –, dass es nun soweit gekommen war.
Elisabeth sagte, dass sie mal mit ihrem Hund auf dem Sofa gelegen und er sie traurig angesehen hatte. In dem Moment hat sie in angefleht, sie doch bitte zu verstehen.
Während sie mir das erzählte, mischte sich ihre Verzweiflung mit einem stockenden Lachen.
Ich stand vor ihr, sie hatte mich gefangen in ihrer traurigen Geschichte. Vielleicht lag es daran, dass ich schlecht geschlafen hatte, wer weiß. Doch hatte sie mich mit ihrer Trauer angesteckt. Und in diesem Moment hätte ich sie gerne in den Arm genommen und versprochen, dass alles gut wird.
Doch leider war mir das unmöglich. Mit belegte Stimme erklärte ich ihr, dass ich ihr leider nicht helfen könne und das ich keine Möglichkeit habe, ihn aufzunehmen.
Manchen Menschen neigen zur Theatralik und zu großen Gesten, um ihrer Gefühlslage Ausdruck zu verleihen. Doch dieser Zusammenbruch war echt. Elisabeth brach in diesem Moment innerlich wie äußerlich zusammen und ich stand vor ihr. Ratlos, fassungslos, hilflos.
Sie setzte sich auf das kleine Mäuerchen vorm Haus, kraulte ihren Hund und hatte jeden Versuch, die Fassung zu wahren, aufgegeben.
Es gibt nur wenige Momente, in denen ich wirklich sprachlos bin. Dieser gehörte dazu und wird mich noch einige Zeit verfolgen. Aber was hätte ich auch sagen sollen?
Man kann sie nicht alle retten, das ist mir klar. Es sind zu viele und man muss den Tieren, die einem anvertraut sind, auch irgendwie gerecht werden. Und vor allem sich selber. Niemanden ist damit geholfen, wenn man sich selber übernimmt, im Versuch zu helfen.
Ich stand mit Elisabeth fast eine Stunde auf dem Hof und hörte, fühlte und sah ihren Leidensweg.
Einen solchen Moment, in dem jemand anders einen so nah an sein Schicksal läßt, ist Belastung und Geschenk zugleich. Ihre Geschichte hat mich mitgenommen, aber auf der anderen Seite war ich dankbar. Dafür, dass sie sich mir anvertraut hat.
Und nein, ich weiß nicht, was Elisabeth getan hat, nachdem sie den Hof verlassen hat, leise „Trotzdem Danke“ schluchzend ins Auto gestiegen ist und losfuhr.
Aber ich weiss, das es das richtige war.
So hart es ist für Elisabeth, du hast das richtige getan. Sich zu zerreißen bringt keinem was, den Hunden nicht und am allerwenigsten einem selber.
Über solche Hunde führte ich letztens eine Diskussion mit Leuten die meinen „Abgeben anstatt auch nur einmal böse zu werden“ und ich frage mich echt wie man annehmen kann das sowas das Problem löst?
Der Halter leidet und der Hund hängt dann beim nächsten und wird gepositivt bis er wieder explodiert. Und weitergeben, weitergeben….
Die Hunde landen dann bei all den wunderbaren Menschen wie dir, die ihr oft die letzte Rettung seit und dann zurechtbiegen müsst was andere mal so richtig versaut haben.
Aber ihr könnt nicht alle aufnehmen, nicht jedem helfen. Das ist einfach unmöglich.
Und es nimmt ja immer mehr zu, es gibt immer mehr dieser Hunde. Das könnt ihr garnicht bewerkstelligen, soviel Zeit und Platz hat einfach niemand!
Vielleicht solltest du dir auch ein paar Lehrlinge nehmen?