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Das bisschen „Drumrum“

Eine gute Freundin meinte neulich zu mir, ich würde langsam aber stetig altersmilde werden. Das mag schon sein, antwortete ich kurz und knapp – bevor ich sie 20 Minuten mit geschmacklosen Witzen, blöden Sprüchen und schändlichen Spott überzog.

Spaß beiseite, man wird ja nicht jünger und im Laufe der Jahre vielleicht nicht unbedingt milder, aber dafür gelassener. Oder müde, wie man es nimmt. Und überhaupt: Wer will schon mit 40 seinen ersten Bypass?

Trotzdem gibt es immer und immer wieder mal Momente, in denen ich auch heute noch an mich halten muss, um nicht in die Tastatur zu brechen (online) oder mich auf die Finger setzen muss, um mein Gegenüber nicht zu schütteln oder schlimmeres (offline).

Neulich zum Beispiel, als ich meinen halben freien Samstag gemeinsam mit gefühlt einer Millionen Touristen auf der A7 verbrachte, um mir in einem Tierheim einen Hund anzusehen, der nach einem innerfamilären Beißvorfall nun das Zeitliche segnen sollte.

Der Delinquent, nennen wir ihn der Einfachheit halber Hasso, entpuppte sich nach eingehender Überprüfung als typischer unerzogener junger Hund, der nicht gelernt hatte, Grenzen zu akzeptieren oder Frust zu ertragen und schließlich zugebissen hatte, als seine Besitzerin anderer Meinung war als er.

Mit solchen Fällen habe ich es, seitdem ich was mit Tierschutz mache, nahezu täglich zu tun und anhand von Hassos Geschichte lässt sich der alltägliche Wahnsinn „drumrum“ ganz gut beschreiben.

Fangen wir mit dem Kennenlernen an. Der Grund, warum ich bei 28 Grad drei Stunden im Stau verbracht habe, war, dass das Tierheim, in dem Hasso zu dem Zeitpunkt untergebracht war, keine Kapazitäten hatte, um ihn längerfristig unterzubringen.

Die Tierheime sind immer noch nicht verpflichtet, Abgabehunde aufzunehmen und bekommen ihr Geld auch nur für die Unterbringung von Fundtieren. Und wenn es sich um ein kleines Tierheim wie in diesem Fall handelt, haben die Kolleginnen und Kollegen auch schlicht keine Kapazitäten, einen Hund zu übernehmen, der auf Grund der Vorkommnisse lange Zeit bleiben wird.

Das ist im Übrigen auch der Grund, warum viele Tierheime mittlerweile Abgabegebühren nehmen, die die Kosten für die Unterbringung und Verpflegung bei weitem übersteigen.

Die Reaktionen lassen natürlich nicht lange auf sich warten:

Frau B. aus Facebook wirft dem Tierheim vor, herzlos zu sein. Frau S. schreibt mir per E-Mail, dass Tierheime Geldmacherei betreiben, anders kann sie die Abgabegebühr nicht erklären. Aha.

Kommen wir zur Einschätzung von Hasso mit Blick auf eine Übernahme durch uns:

Hierbei geht es darum, zu überprüfen, wie und ob der Hund zu managen ist, wo seine Auslöser liegen und wie er auf Ansprache, Berührung, Bewegungsreize, Artgenossen, Einschränkung und Unterbrechung reagiert. Immerhin müssen die Tierpfleger/innen später mit ihm arbeiten können, ohne das Gefahr für Leib und Leben besteht. Und vermittelt werden soll er ja auch irgendwann mal.

Zu diesem Zweck sichere ich den Hund mit Maulkorb ab, denn wenn so ein 30-Kilo-Hasso losmarschiert, ist das auch mit Maulkorb schon unangenehm genug, wenn man nicht aufpasst. Und es ist nicht die Aufgabe des Hundetrainers oder Tierpflegers, sich von fremder Leute Hunde zerlegen zu lassen.

Frau A. schreibt dazu, dass der Maulkorb tierschutzrelevant ist.

S. schreibt dazu, dass es „voll gemein ist, die Fellnase“ während der Einschätzung einzuschränken und sie (die Fellnase) „natürlich beissen muss, wenn man sie derart quält“.

Interessant, ich persönlich finde es nicht nur außerordentlich gemein, sondern extrem fahrlässig, mit Rücksicht auf die arme Hundeseele auf eine allumfassende Einschätzung zu verzichten.

Es ist Aufgabe des Tierschutzvereins, seine Schützlinge so gut zu kennen, dass böse Überraschungen für Mitarbeiter/innen und Interessent/innen ausgeschlossen werden können.

Wenn die neue Familie es ist, die im ganz normalen Alltag den Auslöser für eine Attacke findet, ist das nicht nur peinlich, sondern grob fahrlässig und sollte bestraft werden können. Und zum ganz normalen Alltag gehört nunmal dazu, dass man mal im Weg steht, beiseite gehen muss oder – bewusst oder unbewusst – begrabbelt wird.

L. schreibt was zum Thema Individualdistanz und gelber Schleife.

Ein Hund, der guten Gewissens in eine Familie vermittelt werden soll, muss ein bisschen mehr als Alltag abkönnen. Kann er das nicht, darf er das lernen.

Am Ende des Tages haben wir entschieden, dass wir Hasso übernehmen würden.

Frau B. ist der Meinung, dass Hasso nun ganz viel Liebe braucht, die wir ihm sicherlich nicht geben.

Voraussetzung für die Übernahme ist jedoch, dass seine Besitzerin damit einverstanden ist. Diese jedoch hat – meiner Meinung nach verständlicherweise – Angst vor ihrem Hund und Sorge, dass sich so ein Vorfall wiederholen könnte. Deshalb möchte sie erst nochmal darüber nachdenken, ob sie ihn nicht doch lieber einschläfern lässt.

M. schreibt dazu: Sollen die doch die Frau einschläfern.

Während dessen bringen sich in den sozialen Netzwerken die jeweils religiös-fundamentalistischen Hundeerziehungsexperten in Stellung.

Herr S. vertritt die Meinung, dass Hasso „nur mal richtig einen auf die Mütze braucht“.

Frau S. (nicht verwandt, vermutlich nicht verschwägert) hat gleich eine ganze Reihe Tipps zum Thema Desensibilisierung und Gegenkonditionierung parat.

Zu diesem Zeitpunkt sitzt Hasso noch im Tierheim und ausser den Mitarbeitern, seiner Besitzerin und mir  hat ihn noch niemand zu Gesicht bekommen – dennoch scheinen ihn einige schon persönlich zu kennen.

Selbstverständlich dürfen auch Mutmaßungen dahingehend, welche/r Hundetrainer/in an Hassos Schicksal beteiligt war, nicht fehlen, so dass sich in einer Facebook-Gruppe ein eigener Thread mit ihm befasst – inklusive Verhaltenseinschätzungen, Ratschlägen, Verhaltenskastrationsforderungen und „Wenn ich was zu sagen hätte“-Kommentaren.

Vermutlich sind sie nachts heimlich ins Tierheim eingestiegen und haben ihn ihrerseits eingeschätzt.

Außerdem finden sich die ersten „Wenn ich nicht schon zwei hätte“-Interessenten, die Hasso ja auf der Stelle ein Zuhause geben würde, wenn nicht … (bitte ausfüllen).

Am Abend schreibt O: Ist das nicht frustrierend? 

Ja, aber nicht in dem Sinne.

4 Kommentare
  1. Olli
    Olli sagte:

    Manchmal denke ich man hätte das Internet schon 2000 Jahre früher gebraucht. Seit es Facebook und Co gibt gibt es jede Menge ausgewiesene Experten die zu jedem Bild eine Meinung haben und alles einschätzen können – nicht nur bei den Hunden sondern auch bei allen anderen Gebieten. Hätten wir das Inet schon 2000 Jahre dann wäre die Welt schlauer (und es gäbe auch keine Tierärzte mehr weil man per Facebook einfach alles diagnostiziert bekommt ;-).

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    • Martina
      Martina sagte:

      Die vielen selbsternannte Experten vergessen dabei immer eins: Sie können sich nie auf die Position zurückziehen die heisst, habe ich nie gesagt, habe ich ganz anders gemeint. Wer schreibt,der bleibt, alter Juristenspruch.

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  2. Michael Schulz
    Michael Schulz sagte:

    Was lehrt dich das? Einfach solche Vorgänge nicht mehr posten. Die Kommentare müssen doch auf Dauer der eigenen Gesundheit mehr als abträglich sein? Ich persönlich hege inzwischen Mordgedanken, wenn Menschen online fernab der Lage zu allem und jedem immer eine Meinung haben müssen. Kann man Dinge nicht einfach mal zur Kenntnis nehmen?

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  3. sunflop
    sunflop sagte:

    ach gottchen, Selbsternannte halt.
    wozu streitet man mit denen?
    allenfalls, wenn man einen gewissen Spaß dran hat.
    also ich teile ja ganz gern aus.
    und ich habe so einen Hund. mehrmals vermittelt, mutierte der niedliche Hund zum Beißer.
    dauert Jahre, bis ein so verdorbener Hund wieder Vertrauen entwickeln kann…
    Maulkorb trägt er oft. begegnen mir solche Leute, die dann was von Tierschutz faseln, frage ich die nur kurz, ob sie schon mal gebissen wurden. und daß ich ihm das Ding in einer Sekunde abgenommen habe.
    hab auch schon mal eine Dame gefragt, ob sie ihm vielleicht einfach die Finger in den Beißkorb stecken will…
    das stoppte sie abrupt.

    es scheint uns homo sapiens auszuzeichnen, daß wir eine Menge lernen können.
    könnten ja auch gleich das Richtige lernen.
    wäre einfacher.

    der Hund hingegen kann immer nur Hund sein. nicht mehr, nicht weniger.
    sondern genau das.

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